Einvernehmen oder sexueller Übergriff?
Arikia Orban brilliert in „Prima Facie“
Prima Facie ist ein juristischer Fachbegriff – es geht um den ersten Anschein. Wenn vor
Gericht Aussage gegen Aussage steht, spielen Glaubwürdigkeit von Kläger und Beklagten
sowie Wertungen des Gerichts eine Rolle. Dies wird in einem 90-minüten Monolog
durchgespielt.
Tessa ist eine aufstrebende Londoner Strafverteidigerin. Ihr gelingt es oft, Männer
„herauszuhauen“, die wegen sexueller Übergriffe angeklagt sind. Vor Gericht schürt sie
Zweifel und verunsichert Zeugen und Opfer. Sie wird gefeiert, bis sie selbst zum Opfer wird.
Nach einer ausgelassenen Party mit reichlich Alkohol schläft sie mit ihrem Kollegen Julian.
Später in dieser Nacht zwingt er sich ihr auf, ignoriert ihre Abwehrversuche und setzt sich
durch. Tessa zeigt Julian an und muss bald feststellen, dass das Rechtssystem für die
Sanktionierung dieser Art von sexualisierter Gewalt nicht gemacht ist. Eine Vergewaltigung?
Oder nur ein Versehen in alkoholisiertem Zustand?
Suzie Millers Monolog ist der aktuell meistproduzierte Theatertext im deutschsprachigen
Raum. In NRW läuft er in Düsseldorf, in Köln, in Münster und glücklicherweise auch am
Westfälischen Landestheater WLT, deren Version auf Einladung des Stadttheater Bocholt
e.V. im Drosselsaal zu sehen war. Im Stück geht es letztlich um eine Kritik des Rechtssystems:
Welche Beziehung besteht zwischen Recht und Gerechtigkeit? Am Ende muss die Antwort
offenbleiben. Aber: Gerechtigkeit kann sicher nicht durch den ersten Anschein hergestellt
werden.
Ralf Ebeling inszeniert „Prima Facie“ mit minimaler Ausstattung und gewohnt zurückhaltend.
Es ist eines der letzten Arbeiten des langjährigen Intendanten des WLT. Im November kommt
„Der zerbrochene Krug“ unter seiner Regie nach Bocholt, bevor Ebeling der Ruhestand winkt.
Arikia Orbán verkörpert Tessa in all ihren Facetten – als aufstrebende und selbstgewisse
Juristin, am Boden zerstört als Vergewaltigungsopfer auf einer Polizeistation und als „zweiter
Sieger“ in ihrem Prozess, auf den sie mehr als zwei Jahre warten muss. Sie spielt auch die
Nebenfiguren – Mandanten, Richter, Vorgesetzte, ihre Mutter und andere Familienmitglieder
– gekonnt und sehr glaubhaft am Rande mit. Ihre fulminante Leistung hat das Bocholter
Publikum am Donnerstagabend mit sehr viel Applaus und „Standing Ovations“ gewürdigt.
Dr. Thomas Siebe